Chefarzt Privatdozent Dr. med. Hans Jörg Stürenburg
Gutachten nach § 109 SGG
Vor dem Sozialgericht kann ein Anwalt nicht beliebig oft beantragen, dass sein Mandant gem. § 109 SGG medizinisch begutachtet wird.
Wird der Mandant vom ärztlichen Gutachter aktuell behandelt, kann schnell dessen Objektivität angezweifelt sein. Dann drohen Prozessnachteile (LSG Baden-Württemberg, 14.3.18, L 5 R 1863/17). Das Landessozialgericht hat darauf hingewiesen, dass der Beweiswert eines Gutachtens beeinträchtigt ist, wenn dessen Ergebnisse auf vorherigen Behandlungen beruhen.
Gutachten ist nicht gleich Gutachten: Viele Bevollmächtigte haben selten mit sozialrechtlichen Mandaten zu tun. Sie kennen daher die zwei verschiedenen Gutachtenarten nicht: Grundsätzlich muss das Sozialgericht von sich aus den Sachverhalt aufklären (Amtsermittlungsgrundsatz).
Das heißt: Wird eine Leistung eingeklagt (i. d. R. Renten), ist meist auch der Gesundheitszustand des Klägers festzustellen. Hierzu zählen körperliche oder psychische Erkrankungen und inwieweit der Kläger noch arbeiten kann.
Das Gericht zieht medizinische Unterlagen bei und kann auch begutachten lassen (§ 106 SGG). Es bestimmt dabei die jeweiligen Gutachter selbst. Diese Gutachten sind für den Kläger grundsätzlich kostenfrei.
Oft sind aber Kläger oder Anwalt der Ansicht, dass bestimmte Erkrankungen nicht ausreichend genug aufgeklärt bzw. nicht entsprechend gewürdigt wurden.
Dann hat der Kläger die Möglichkeit, selbst seine Begutachtung zu beantragen (§ 109 SGG).
Er darf dann zwar auch die Gutachter und das medizinische Fachgebiet selbst auswählen.
Die Kosten eines Gutachtens nach § 109 SGG sind von der Landeskasse zu übernehmen, wenn dies die Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts objektiv wesentlich gefördert hat und dadurch bedeutend war für eine gerichtliche Entscheidung oder eine anderweitige Erledigung des Rechtsstreits (LSG NRW 20.6.17, L 18 R 677/15 B).
Das kann auch der Fall sein, wenn der Kläger unterliegt.
Sie müssen ein 109er-Gutachten zwingend stets bei Gericht beantragen.
Denn nur das Gericht kann einen Gutachter durch Beweisanordnung beauftragen.
Und das gilt auch, wenn es anschließend notwendig sein sollte, den Gutachter ergänzend zu befragen (ergänzende Stellungnahme).
Sie dürfen keinesfalls den Sachverständigen direkt anschreiben bzw. um eine Ergänzung bitten.
Eine direkte Kontaktaufnahme ist grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des § 404a Abs. 4 ZPO zulässig. Dies gilt auch im sozialgerichtlichen Verfahren.
Im Bereich der Sozialversicherung besteht die Möglichkeit, Widerspruch gegen eine Entscheidung zu einzulegen.
Dazu sollte der Versicherte einen rechtskräftigen Bescheid inklusive Rechtsbehelfsbelehrung vorliegen haben.
Im Widerspruchsverfahren erfolgt eine Überprüfung des Falles, wobei der Widerspruch entsprechend begründet sein muss und darlegen sollte, weshalb die Entscheidung des Sozialversicherungsträgers falsch war.
Häufig ist dabei eine gesonderte ärztliche Begründung erforderlich oder zumindest sinnvoll. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die ärztliche Stellungnahme klar darlegt, weshalb der Widerspruch eines Versicherten aus medizinischer Sicht richtig ist. Es ist hierbei notwendig, insbesondere die eingeschränkte Funktionalität aufgrund von Erkrankungen und Beeinträchtigungen darzulegen und nicht nur Diagnosen aufzulisten oder darauf hinzuweisen, dass Funktionsbeeinträchtigungen bestehen.
Der Widerspruch wird mit der Widerspruchsbegründung einem Widerspruchsausschuss vorgelegt.
Solche Einrichtungen existieren bei allen Sozialversicherungsträgern und setzen sich aus Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammen. Der Widerspruchausschuss entscheidet, ob eine erneute ärztliche Prüfung (z.B. nochmaliges Gutachten) erforderlich ist oder kann auch ohne weitere Prüfung die getroffene Erstentscheidung revidieren. Andererseits kann der Widerspruchsausschuss den Widerspruch auch zurückweisen.
Vor dem Sozialgericht erfolgt die nochmalige ausführliche Prüfung des vorliegenden Sachverhaltes, häufig unter Beiziehung weiterer Befundberichte der vom Kläger (Versicherten) angegebenen Ärzte und Kliniken.
Kann der Richter sich danach kein ausreichendes Bild machen, gibt er eine Begutachtung (nach § 106 SGG) in Auftrag. Vielfach folgen die Richter den Fallbeurteilungen der jeweiligen Sachverständigen. Manchmal sind allerdings auch mehrere Gutachten vor dem Sozialgericht erforderlich, bis eine Entscheidung getroffen wird.
Darüber hinaus hat der Kläger (Versicherte) die Möglichkeit, eine Begutachtung über das Gericht zu veranlassen (§ 109 SGG).
Häufig wird dabei ein behandelnder Arzt als Gutachter angegeben. Die Problematik der Gutachten nach § 109 SGG liegt nicht selten darin, dass dies insbesondere bei Interessensüberschneidungen eine Gefahr darstellt, wenn der Gutachter gleichzeitig der behandelnde Arzt des Versicherten ist.
Zusätzlich findet sich das Problem, dass die mit einem Gutachten nach § 109 SGG beauftragten Gutachter nicht unbedingt routiniert in der Gutachtenerstellung sind und die vorgelegten Gutachten somit nicht den Ansprüchen an ein Sozialgerichtsverfahren genügen.
Es empfiehlt sich daher, für ein Gutachten nach § 109 SGG einen versierten Gutachter zu beauftragen, bei dem der Vorwurf der Parteilichkeit nicht erhoben werden kann (der also nicht an der Behandlung des Versicherten / Klägers beteiligt war oder ist.
Sozialgerichtsverfahren enden entweder mit einem Urteil, einem Vergleich oder einem Zurückziehen der Klage. Ist eine der Parteien mit dem gesprochenen Urteil unzufrieden, kann Berufung vor dem Landessozialgericht beantragt werden. Hier wird der Fall auf Basis der vorhandenen Unterlagen nochmals überprüft. Eine erneute ärztliche Begutachtung vor dem Landessozialgericht (LSG) ist eher selten. Die Revision durch das Bundessozialgericht (BSG) erfolgt nur in den Fällen, in denen von einer grundsätzlichen Bedeutung für die jeweilige Versichertengemeinschaft ausgegangen werden kann. Es besteht allerdings die Möglichkeit, sich ggf. per Beschwerde an das BSG zu wenden, falls das LSG die Revision nicht zugelassen hat. Gutachten in Sozialgerichtssachen: In sozialgerichtlichen Auseinandersetzungen ist häufig umfassend der Gesundheitszustand des Klägers festzustellen. Daher beauftragt das Gericht medizinische Sachverständige, die Krankheiten, ihren Schweregrad sowie die Erwerbsfähigkeit beurteilen. Auch die Klägerpartei kann ihre eigene Begutachtung beantragen. Welche Rechte, Fristen und Vorschriften dabei zu beachten sind, erklärt dieser Beitrag, der in der nächsten Ausgabe speziell mit Antworten zu der Kostentragungspflicht ergänzt wird. Gutachtenformen: Zwei Gutachtenformen sind zu unterscheiden: Das gerichtlich angeordnete Gutachten (§ 106 SGG) und das vom Kläger beantragte Gutachten (§ 109 SGG). Sachverständigengutachten gemäß § 106 SGG: Grundsätzlich gilt vor den Sozialgerichten der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG). Das Gericht ist verpflichtet, sich zu Beginn des Verfahrens umfassend über den Gesundheitszustand des Klägers zu informieren, ohne dass er dies selbst beantragen muss. Dabei stützt sich das Gericht auf vorhandene medizinische Dokumente wie ärztliche Atteste, Befund- und Entlassungsberichte von Kliniken und ordnet gegebenenfalls ergänzend eine Begutachtung gemäß § 106 SGG an. Auf die Fachrichtung und die Sachverständigenwahl (Arzt, Klinik) hat der Kläger dabei keinen Einfluss, sie werden durch das Gericht bestimmt. Für Gutachten gemäß § 106 SGG entstehen dem Kläger keine Kosten, da diese von der Landeskasse getragen werden. Der Kläger muss die Kostenübernahme daher auch nicht gesondert beantragen. Sachverständigengutachten gemäß § 109 SGG: Sind seine gesundheitlichen Einschränkungen und deren Schweregrad nach Meinung des Klägers nicht präzise oder umfassend genug aufgeklärt, kann dieser selbst jederzeit während des Verfahrens im Rahmen des § 109 SGG eine (oder mehrere) weitere Begutachtungen beantragen. Dabei darf er sowohl die begutachtende Stelle als auch das ärztliche Fachgebiet selbst bestimmen. Sozialgerichte können solche Gutachtenanträge nicht ablehnen, weil sie deren Einholung nicht für notwendig oder den Sachverständigen nicht für geeignet halten (LSG NRW 29.1.03, L 10 SB 97/02).
Die Kosten für Gutachten gemäß § 109 SGG sind grundsätzlich von der Klägerpartei (Rechtsschutzversicherung) zu tragen. Jedoch besteht die Möglichkeit, auch noch nach Verfahrensbeendigung die Kostenübernahme auf die Landeskasse zu beantragen (Wenner, Kommentar zum Sozialrecht, 3. Aufl., SGG 150, § 109 SGG Rn. 10). Aussagen des Gutachtens überprüfen: Das Gericht hat sich bei Umgang und Auswertung eingeholter Gutachten an wichtigen Vorgaben zu orientieren, deren Einhaltung die Klägerpartei aus prozesstaktischen Gründen beobachten sollte. Aussagekräftige Gutachten: Das Gericht holt ein Gutachten nach § 106 SGG ein, um einen Ursachenzusammenhang festzustellen (z.B. ob eine Erkrankung berufsbedingt oder einen Arbeitsunfall zurückzuführen ist). Das Gutachten enthält zum Ursachenzusammenhang jedoch keine Erläuterungen. Deshalb zieht das Gericht ersatzweise medizinische Literatur heran, um die Frage des Ursachenzusammenhangs zu klären. Dies ist nicht zulässig, da Sozialgerichte derartige Fachliteratur lediglich für eine Überprüfung beiziehen dürfen, ob die gutachterlichen Feststellungen auf dem aktuellen Wissensstand der Medizin sind. Den Ursachenzusammenhang dürfen sie nicht danach beurteilen (BSG 18.1.11, B 2 U 5/10 R). Das Gericht hat in diesem Fall weitere Gutachten einzuholen, die den Mangel beseitigen. Fragerecht und Prüfungspflicht: Eine Klägerpartei möchte Fragen an einen beauftragten Sachverständigen richten. Dies ist zulässig, da die Beteiligten allen Sachverständigen Fragen stellen bzw. ihnen schriftliche Fragen vorlegen dürfen, die sie zur Aufklärung als wichtig ansehen (§§ 116, 118 SGG i.V. mit 402 ff. ZPO). Ferner weist die Klägerpartei später auf einen vermeintlichen Widerspruch sowie eine vage, wenig aussagekräftige Beurteilung einer Herzerkrankung hin. Derartige Einwände muss das Gericht prüfen, etwaige Widersprüche klären und das Gutachten in allen Punkten einer selbstständigen, eigenverantwortlichen Prüfung unterziehen (Bayerisches LSG 29.11.12, L 18 U 301/01; LSG NRW 16.2.11, L 13 VG 33/10). Kläger und Bevollmächtigte sollten daher gezielt und präzise medizinische Fragen zur Sachverhaltsaufklärung frühzeitig schriftsätzlich erarbeiten, damit diese bei der Sachaufklärung von Amts wegen berücksichtigt werden. Möglicherweise wird damit auch die zusätzliche Begutachtung gemäß § 109 SGG nicht mehr notwendig und die Kostenbelastung entfällt. Wie gut das Gericht über die bisherigen Behandlungen des Klägers im Bilde ist und gegebenenfalls von den zuständigen Stellen Stellungnahme einholt, hängt maßgeblich von der Ausfüllung des Fragebogens ab, der zu Beginn vom Sozialgericht übersandt wird. Der Kläger sollte diesen umfassend und vollständig ausfüllen. Berater und Bevollmächtigte sollte auf vollständige Adressen und schlüssige Behandlungsgründe im Fragebogen achten. Gutachten nach § 109 SGG korrekt beantragen: Die Begutachtung im Rahmen des § 109 SGG ist geboten, wenn der Gesundheitszustand auch nach gerichtlicher Ermittlung (Befundberichte/Gutachten nach § 106 SGG) unzureichend aufgeklärt bleibt. Da in ihrer Gutachterwahl frei, sollte sich die Klägerpartei für Fachärzte und Universitätskliniken entscheiden, die sich auf die strittigen medizinischen Fragen, Beschwerdebilder und Gesundheitsprognosen spezialisiert haben. Es liegt nahe, dass ein entscheidender Grund meist in einer besonderen Kompetenz liegt, z.B. durch weit überdurchschnittliche Fachkenntnisse, Spezialisierung oder spezifische Diagnostik auszeichnet. Dies sollte in der Begründung entsprechend vorgetragen werden. Es besteht keine Pflicht des Gerichts, auf die Möglichkeit der Begutachtung nach § 109 SGG hinzuweisen. Weiterhin ist grundsätzlich auch keine Frist für die Beantragung zu beachten, sie kann jederzeit während des Verfahrens erfolgen, darf jedoch nicht verspätet sein. Dies ist auch naheliegend, denn während des Rechtsstreits können sich der Gesundheitszustand der Klägerpartei verschlechtern oder gar völlig neue Fragen anderer medizinischer Fachgebiete hinzutreten, die eine weitere Aufklärung notwendig machen.
Die Klägerpartei muss darauf achten, nicht grob nachlässig oder verspätet Anträge zu stellen.
Wenn sie erkennen muss, dass das Gericht nicht mehr weiter von Amts wegen ermitteln wird oder Fristen für die Stellung eines Antrags nach § 109 SGG oder die Zahlung eines Kostenvorschusses gesetzt werden, sind diese einzuhalten.
Da sich sozialgerichtliche Verfahren häufig lange hinziehen, sollte möglichst frühzeitig beantragt werden, auch um die Vermutung einer Verschleppungsabsicht zu vermeiden. Der Antrag nach § 109 SGG muss schriftlich erfolgen und einen (oder mehrere) Gutachter benennen (vollständigen Namen des Facharztes, Anschrift der Klinik, gegebenenfalls Funktionsbezeichnung).
Eine Antragstellung ohne Bezeichnung des gewünschten Gutachters („wird noch benannt“) stellt noch keinen wirksamen Antrag dar. Auch können mehrere Sachverständige/Gutachterstellen an verschiedenen Orten beauftragt werden. Zwar werden die an Sachverständige gerichteten Beweisfragen (Beweisthema) vom Gericht formuliert, jedoch kann die Klägerpartei mit Antragstellung auf zu klärende Beweisfragen hinweisen.
Deutsche Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB):
Gutachterprofil: PD Dr. Stürenburg: https://dgnb-ev.de/gutachter/profile/1417
Musterformulierung / Beantragung Gutachten nach § 109 SGG Sozialgericht:
An das Sozialgericht
In dem Rechtsstreit: Aktenzeichen:
wird die Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß 109 SGG auf nervenärztlichen Fachgebiet beantragt.
Die Begutachtung soll durchgeführt werden durch Herrn PD Dr. med. Hans Jörg Stürenburg, Facharzt für Neurologie, Hauptstrasse 59, 31542 Bad Nenndorf.
Es wird um die kurzfristige Erstellung und Übersendung der Beweisanordnung gebeten, damit die Begutachtung möglichst kurzfristig durchgeführt werden kann.
gez. Kläger oder Rechtsvertreter.
Post - Adresse:
PD Dr. Hans Jörg Stürenburg
Hauptstrasse 59
31542 Bad Nenndorf